Wenn Sterne die Metallbearbeitung inspirieren
EMO Hannover 2019: Astrophysiker wollen das Fräsen optimieren
Neuerdings interessieren sich sogar Astrophysiker für die EMO Hannover. Dr. Theo Steininger und Dr. Maksim Greiner aus Garching, ehemalige Doktoranden des Max-Planck-Instituts für Astrophysik in Garching, haben eine Software für Künstliche Intelligenz (KI) entwickelt, die neueste statistische Analysemethoden der Astrophysik nutzt. Nach erfolgreichem Einsatz in der Türmontage bei einem deutschen Premium-Automobilhersteller wollen sie nun auch die Metallbearbeitung erobern. Konkrete Anwendungsmöglichkeiten hoffen sie im September in Hannover zu finden.
Der neue statistische Ansatz der Garchinger Jungunternehmer erlaubt die Echtzeit-Auswertung von Zerspanvorgängen. Doch das ist aktuell noch Zukunftsmusik, denn zunächst interessierte sich die Automobilindustrie für die Methodik. Dort wurde zum Beispiel ein KI-System gesucht, mit dessen Hilfe sich Türen genauer und prozessstabiler montieren lassen, um die teure Nacharbeit zu reduzieren.
Schwierige Bestimmung der Endposition
Die Aufgabenstellung schildert ein Whitepaper der beiden Ex-Wissenschaftler: „Die Bestimmung der besten Montageposition für eine Fahrzeugtür ist schwierig. Zum Zeitpunkt der Installation ist weder die Tür noch die Karosserie lackiert. Es fehlen Fenster, Zubehör und Dichtungen. Der Einfluss all dieser Faktoren auf die Türposition durch Verformung und zusätzliches Gewicht muss vorhergesehen und kompensiert werden, um schließlich die gewünschte Endposition zu erreichen. Daher müssen Mitarbeiter die Türen nach der Montage stets manuell richten.“
Die Lösung der Astrophysiker, die gerade in Garching das Unternehmen Erium GmbH gegründet haben, besteht in der Verknüpfung von maschineller Intelligenz mit dem Wissen und der Erfahrung von Prozessexperten. Mit diesen Zusatzinformationen berechnet die KI-Software die idealen Montagepositionen bereits nach dem Bau von nur wenigen Fahrzeugen.
„Eine wichtige Rolle spielt bei uns das schnelle Machine Learning“, erklärt Theo Steininger. „Das unterscheidet sich von den sehr flexiblen neuronalen Netzen, die aber gerade deshalb auch sehr viele Daten benötigen. Wir müssen mit sehr wenigen Daten klarkommen – im Gegen-satz zu den sonst typischen Big-Data-Aufgabenstellungen, die sich mit viel technischem Aufwand und entsprechend schnell rechnenden High-Performance-Computern lösen lassen.“ Bei wenigen Daten sei dagegen der technische Aufwand vergleichsweise trivial, aktuell reichen Laptops aus. Wesentlich höher sei aber der Aufwand bei den Algorithmen, die für den Prozess wichtige Daten in Echtzeit analysieren und aufbereiten. „Vor dem eigentlichen Software-Start analysieren wir das Problem mit den Experten des Kunden“, erläutert Steininger. „Zusammen definieren wir das Optimierungsziel und eben jene Prozessschritte, die es nachhaltig beeinflussen.“
Expertenwissen als Fundament der Analyse
Dank dieser Experten-Gespräche lassen sich unwichtige Kennwerte ausschließen, die keine oder nur eine geringe Rolle spielen. So entsteht schrittweise ein klar definiertes Netzwerk an Abhängigkeiten, mit denen sich laut Steininger ein schnell arbeitender Algorithmus erstellen lässt. „Wir abstrahieren und erklären dem Programm so Tatsachen, die für den Experten völlig klar sind – etwa das Ohm’sche Gesetz oder, dass eine Geschwindigkeit die Ableitung des Ortes nach der Zeit ist“, sagt der Astrophysiker. „Das sind für ein neuronales Netzwerk nicht-triviale Zusammenhänge, die es erst anhand der Daten erlernen muss.“ Im Gegensatz zu diesen leicht zu erkennenden Aussagen treten aber auch Fragestellungen auf, die die Prozessexperten erst überprüfen müssen. Also etwa, ob sich eine Autotür aufgrund eines neuartigen Dichtbandes wirklich in der Art verformt, wie sie es auf Basis ihrer Erfahrungen vorhersagen. „Wir unterscheiden uns mit unserer Methode von der gängigen Methode nach dem Prinzip: Gebt uns alle Daten und wir schauen mal, was sich damit anfangen lässt“, betont Steininger. „Wir stellen dagegen den Menschen in den Mittelpunkt, um sein Expertenwissen als Fundament der Analyse zu nutzen.“
Bisher kommt die Methode vor allem in der Automobilindustrie zum Einsatz, doch die Garchinger visieren auch das Zerspanen an. Es geht dabei zum Beispiel um Frässpindeln, deren Rotationsverhalten sich mit zunehmender Abnutzung verschlechtert. Die Spindeln geraten ins Schlingern, das je nach Art des Verschleißes unterschiedlich ausfällt. Der Algorithmus der Astrophysiker könne nun – angereichert mit Expertenwissen – den Einsatz der Spindel in Abhängigkeit vom Verschleißgrad optimieren. Doch Steininger denkt schon einen Schritt weiter: „Spannend wird es bei der Frage, ob sich der höhere Spindelverschleiß beim Fahren in Grenzbereichen lohnt – weil ein Bauteil zum Beispiel in sehr kurzer Zeit gefertigt werden soll. Unser Programm würde dazu nicht nur die reinen Maschinenparameter, sondern auch weiche Faktoren wie Kundenbeziehungen berücksichtigen.“ Dazu benötigen die Garchinger allerdings den Zugriff auf die Produktions- und Qualitätsdaten ihrer Kunden.
EMO Hannover 2019 ist eine Quelle für Detailinformationen
Nicht nur aus diesem Grund informierte sich der Astrophysiker schon detailliert über die EMO Hannover 2019. Steininger wird in Hannover am Start-up-Gemeinschaftsstand des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) vertreten sein. Er will sein Unternehmen der Branche präsentieren, sich aber auch über sehr komplexe und extrem schnelle, vom Menschen teilweise nicht mehr regelbare Prozesse informieren. Ihn interessiert besonders, inwieweit die Digitalisierungswelle fortgeschritten ist, eben weil ihr KI-Programm Produktions- und Qualitätsdaten benötigt. Steininger: „Für mich sind persönliche Gespräche mit Ausstellern und Anwendern aus diesem Grund sehr wertvoll.“
Autor: Nikolaus Fecht, Fachjournalist aus Gelsenkirchen
Bild & Text: emo-hannover.de